Christian Lindners investitionspolitischer Pessimismus

Deutschland hat in den letzten Jahren einen erheblichen Investitionsstau aufgehäuft. Schulen und Brücken, Wohnungsbau, Krankenhäuser, Bahn, Gebäudesanierung, E-Mobilität, die Digitalisierung und vieles mehr: Notwendige Investitionen sind unterblieben. Jetzt kommen noch stark erhöhte Anforderungen an die Verteidigungsausgaben dazu.

Zum privatwirtschaftlichen Investitionsbedarf in Deutschland im Bereich des Klimawandels kann man Zahlen bis über zwei Billionen Euro lesen. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat kürzlich den Investitionsbedarf der Kommunen im Verkehrsbereich auf ca. 370 Mrd. Euro bis 2030 geschätzt. Für die Schulen fehlen aktuell fast 50 Mrd. Euro. Die Krankenhäuser brauchen jährlich fast 7 Mrd. Euro für Gebäude und Technik, mehr als 3 Mrd. davon fehlen jedes Jahr. Zugleich fließen manchmal staatliche bereitgestellte Investitionsmittel nicht ab, z.B. weil Kofinanzierungen fehlen, bürokratische Hürden zu hoch sind oder Fachkräfte fehlen.

Die OECD fasst die Lage prägnant in zwei Sätzen zusammen:

„Seit den 2000er Jahren ist aufgrund einer schwachen Binnennachfrage und geringen unternehmerischen Dynamik privates Kapital aus Deutschland abgeflossen. Die öffentliche und private Investitionstätigkeit ist im Vergleich zu vielen anderen OECD-Ländern niedrig.“

Betrachtet man speziell die öffentlichen Investitionen, so hatten 2021, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt, nur drei OECD-Mitgliedsländer niedrigere öffentliche Investitionen als Deutschland: Costa Rica, Irland und Portugal.

In der politischen Diskussion um die öffentlichen Investitionen spielen Bemühungen um solide Staatsfinanzen einerseits und ausreichende Zukunftsinvestitionen andererseits eine prominente Rolle. Dabei geht es in Deutschland immer auch um die im Grundgesetz verankerte „Schuldengrenze“, die eine Beschränkung der Nettokreditaufnahme für Bund und Länder auf 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts vorgibt, sofern keine außergewöhnliche Lage eine Ausnahme erlaubt.

Viele Fachleute empfehlen derzeit, die Schuldenbremse zu reformieren, weil sie die nötigen Zukunftsinvestitionen behindere. Christian Lindner hat nun diese Tage im Fernsehen bekräftigt, an den Schuldenbremse in ihrer gegenwärtigen Form festhalten zu wollen, die Mittel für Investitionen sollen durch Umschichtungen im Bundeshaushalt aufgebracht werden. Dabei brachte er ein Argument der Generationengerechtigkeit vor:

„Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen“

Was Lindner wie eine ökonomische Binsenweisheit präsentiert, ist in Wirklichkeit ein höchst voraussetzungsreiches Argument. Man könnte genauso gut auch sagen: „Die Schulden von heute sind die Steuereinnahmen von morgen“. Es kommt darauf an, was mit den staatlichen Krediten passiert, ob sie zusammen mit anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen die Wirtschaft stärken oder nicht. Davon abgesehen, sind auch fehlende Investitionen von heute die Schulden, Steuern oder Wohlstandsverluste von morgen.

Christian Lindner betrachtet die Schuldenfrage zu isoliert, als reine Ausgaben- und Tilgungsfrage, und er erweist sich wirtschaftspolitisch als Pessimist. Er scheint – gegen OECD, Bundesbank und andere – nicht zu glauben, dass staatliche Kredite zu Investitionen führen, die sich langfristig auszahlen. Beim schuldenfinanzierten „Generationenkapital“ für die Renten war er interessanterweise zuversichtlicher – Investitionen in die Finanzmärkte vertraut er eher. Dabei sind die oben beispielhaft genannten Investitionsbedarfe für Verkehrsinfrastruktur, Schulen oder Krankenhäuser auch aus Sicht der Wirtschaft unstrittig. „Ohne kräftige Investitionen geht es nicht, das lässt sich gut am desolaten Zustand der Bahn ablesen“, ließ sich z.B. Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vor ein paar Monaten in der FAZ zitieren, flankiert von ähnlichen Einschätzungen anderer wirtschaftsnaher Institute.

Allerdings ist Lindners Hartnäckigkeit in gewisser Weise konsequent. Lindners praktische Erfahrungen in der Wirtschaft sind begrenzt. Er argumentiert oft aus dem Blickwinkel der reinen liberalen Lehre, realitätsfern. Nach marktliberalem Verständnis darf es keine staatliche Investitionspolitik geben. Zum einen würden sich im Staat oft wirtschaftsfremde Interessensgruppen durchsetzen, zum anderen sind dem liberalen Übervater Friedrich August v. Hayek zufolge Menschen, einschließlich Politiker:innen, ohnehin nicht klug genug, um zu wissen, welche Sparten der Wirtschaft zukunftsträchtig sind – Kohle, Solarenergie oder Pferdefuhrwerke. Die Märkte wissen es besser und staatliche Investitionsplanung ist die Vorstufe zur kommunistischen Planwirtschaft, oder in Hayeks Worten, „der Weg zur Knechtschaft“.

Historisch sind solche Ansichten durch nichts gedeckt, alle erfolgreichen Volkswirtschaften mit ihren Leitbranchen haben sich unter staatlichem Schutz entwickelt. Aber der Glaube an den Markt ist stark, auch bei Christian Lindner. Wenn dann noch ökonomische Vorstellungen nach dem Muster der „Schwäbischen Hausfrau“ dazu kommen, wird die Staatsverschuldung schnell zum wirtschaftspolitischen Sündenfall. Dann wird auch da gespart, wo es nicht nur sozial bedenklich, sondern auch ökonomisch unsinnig ist.


Der Beitrag ist freundlicherweise auch wieder auf Makroskop erschienen: https://makroskop.eu/13-2024/christian-lindners-investitionspolitischer-pessimismus/


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Comments

8 Antworten zu „Christian Lindners investitionspolitischer Pessimismus“

  1. Felix

    Ich nenn das gern „neoliberale Knauserigkeit“…..wir machen alles aber es darf nix kosten…

    Felix

  2. Nicker

    Die Staatsquote ist ein verlässlicher Indikator ob ein Staat zu hoch verschuldet ist.
    Fakt: Mit einem BIP-Anteil von 48,2 Prozent ist die Staatsquote in Deutschland sogar geringfügig niedriger als im Durchschnitt der EU-Länder (48,9 Prozent) Zum Vergleich , in Frankreich berträgt die Staatsquote 57 %.

    Fazit: Christian Lindner macht sich wichtig an der falschen Stelle. Deutschland kann leicht größere Kredite aufnehmen ohne die Steuern erhöhen zu müssen.

    1. leben-und-geld

      @ Nicker:

      Die Staatsquote ist kein verlässlicher Indikator für eine zu hohe Verschuldung eines Staats, sie ist überhaupt kein Indikator für Verschuldung, sondern hängt von verschiedensten Einflussfaktoren auf die Staatsausgaben ab.

      Zudem ist es geradezu Ökonomie nach Karl Valentin, die Verschuldung über den Anteil der Staatsausgaben am BIP betrachten zu wollen, wenn man den Anteil der Schulden am BIP als Schuldenquote direkt hat.

      Vermutlich schätzen Sie die Zahl Ihrer Kinder am Verbrauch an Pommes in der Familie, statt sie einfach zu zählen.

  3. Nicker

    XXX

    [Kommentar gelöscht, Sendepause. JK]

  4. M. Hahn

    Der Beitrag ist für mich verständlich und einleuchtend. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil ich keine Ahnung von Volkswirtschaft habe und der Artikel meine bereits bestehende politische Ansicht trifft?
    Ich grübele über den Ungarn-Balken ganz rec hts. Auch über die volkswirtschaftlichen Verhältnisse in Ungarn weiß ich praktisch nichts, aber ich habe eine Ansicht zu den dortigen politischen Verhältnissen.
    Überdurchschnittlich hoher Anteil öffentlicher Investitionen am BIP – was heißt das? Immer das gleiche, Gute?
    Der erste Absatz im Blogpost zählt lauter sinnvolle Ziele für öffentliche Investitionen auf. Kann man öffentliche Investitionen auuch anderweitig, für weniger nachhaltige Ziele, einsetzen?
    Woher stammt das Geld, das die ungarische Regierung ausgibt? Schulden? Brüssel? Für welche Zwecke gibt sie es aus?

    1. leben-und-geld

      Zu Ungarn gibt es vermutlich auch einen OECD-Landesbericht. Der sollte dann zumindest Hinweise geben, was hinter dem hohen Anteil öffentlicher Investitionen in Ungarn steckt.

      Immer gut ist ein hoher Anteil sicher nicht. In Russland ist er wegen der Rüstungsinvestitionen hoch und in manchen Ländern, wie Nordkorea, weil die Privatwirtschaft kleingehalten wird.

  5. RGS

    Die Staatsquote sagt nichts darüber aus wofür der Staat Geld ausgibt. Daher ist sie kein gutes Maß.

    Die aktuelle Regierung wie auch die alte schafft nur unzureichende Investitionsbedingungen und schafft keine Anreize für private Investitionen in die Zukunftstechnologien. (Z.B.: Energietransformation, Bildung)

  6. DH

    „„Die Schulden von heute sind die Steuereinnahmen von morgen“.
    So ist es.
    „Nach marktliberalem Verständnis darf es keine staatliche Investitionspolitik geben“
    Marktliberal und neoliberal widersprechen sich wie Darwin und Sozialdarwinismus, ich würde eher von „marktradikal“ sprechen, obwohl eigentlich auch das irreführend ist- die neoliberale Sicht ist im Kern marktfeindlich und keine Form der freien Marktwirtschaft.
    “ Investitionen in die Finanzmärkte vertraut er eher.“
    Kann man schön sehen daß es gar nicht um Schulden an sich geht, sondern eher um Staatsfeindlichkeit, die libertäre kleine Schwester der liberalen Skepsis gegenüber dem Staat, in die die Neoliberalen so verliebt sind.
    Daß Lindner immer weiter so macht wie bisher, ist ein schönes Beispiel für den Spruch, es sei „eine Form des Wahnsinns, immer dasselbe zu versuchen und jedesmal ein anderes Ergebnis zu erwarten“.
    Die FDP versackt immer mehr in den Umfragewerten, dennoch versucht Lindner immer nur mehr vom bisherigen.

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