Digitaler Kapitalismus im Gesundheitswesen

2019 ist das Buch „Digitaler Kapitalismus“ von Philipp Staab erschienen. Er beschreibt darin einen grundlegenden Wandel vom Neoliberalismus mit seiner Orientierung an Wettbewerb und freien Märkten hin zu einem System, bei dem die Märkte selbst zum Eigentum von Unternehmen werden. Die digitalen Plattformen kontrollieren den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen, sie machen aus dem Marktzugang selbst ein knappes Gut. Sie binden die Kunden an ihre Plattformen und machen den Umstieg technisch aufwändig und wirtschaftlich teuer. Alternativen beispielsweise zu Microsoft sind oft nicht mehr praktikabel umsetzbar. Aus diesem Arrangement mit Infrastruktur und Zugangsmacht, nicht aus dem Besitz der eigentlichen Produktionsmittel für Kaffeemaschinen, Kleider oder Lebensmittel, ziehen sie den Gewinn (Nachtwey/Staab, Das Produktionsmodell des digitalen Kapitalismus, Soziale Welt, Sonderband 23 (2020), 285 – 304, S. 295):

„Ein wesentliches Merkmal der Plattformökonomie ist (…), dass die Gewinnerzielung vornehmlich auf Nutzungsgebühren von Märkten und der auf ihnen angebotenen Güter und Dienstleistungen sowie der Kommodifizierung persönlicher Daten basiert.

(…)

Die Plattform übernimmt also einerseits die Rolle des Händlers, der freilich nur begrenzt Güter lagern oder materiell distribuieren muss und dennoch der eigentliche Profiteur der Marktorganisation ist. Andererseits basieren die beschriebenen Prozesse eben gleichzeitig auf einer hochgradig proprietären Infrastruktur in Form des Cloud-Computing, wo wiederum die Leitunternehmen des kommerziellen Internets die entscheidenden Anbieter sind (insbesondere Amazon, Microsoft und Google).“

Dass die Kontrolle von Märkten durch eine proprietäre Infrastruktur Einkommen generieren kann, ist dabei nichts grundsätzlich Neues. Auch der Viktualienmarkt in München beispielsweise funktioniert mit streng geregelten Zugängen und Handelsauflagen – gesetzt in diesem Fall durch eine Markt-Satzung seitens der Stadt als „Markteigentümerin“. In gewisser Weise kann man solche Märkte als analoge Modelle des Digitalen Kapitalismus betrachten. Die Differenz von Größe und Macht ist allerdings kein Zufall.

Im Gesundheitswesen erleben wir seit einigen Jahren, beflügelt auch durch die Coronakrise, in der Digitalisierung eine große Dynamik, nachdem vorher jahrzehntelang nicht einmal eine elektronische Gesundheitskarte auf den Weg gebracht werden konnte und später die Telematik-Infrastruktur nur im Schneckengang vorankam.

Jetzt geht alles Schlag auf Schlag, wenn auch über viele Schlaglöcher. Jens Spahn und Karl Lauterbach haben dabei nie ein Geheimnis daraus gemacht, warum sie das Gesundheitswesen möglichst umfassend digitalisieren wollen. Karl Lauterbach hat das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ganz ausdrücklich auch als Instrument der Wirtschaftsförderung, vor allem der Pharmaindustrie, angepriesen, nachlesbar im Deutschen Ärzteblatt. Der Industrie sollen die Gesundheitsdaten als Rohstoff zur Generierung von neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten und anderen Angeboten möglichst einfach verfügbar gemacht werden. Es heißt, dass am Ende davon natürlich die Patient:innen profitieren, eine in die Digitaliserung übertragene Variante der Trickle-Down-Theorie. Deshalb müssten Bedenken zu Datenschutz und Datensicherheit zurückstehen. Jens Spahn hatte die Prioritäten mit dem Satz „Datenschutz ist nur etwas für Gesunde“ auf den polemisch kürzesten Nenner gebracht.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sollten Gesundheitsdaten im Interesse der Patient:innen besser als bisher genutzt werden, und natürlich sind dazu gute technische Tools nötig. Das gilt übrigens auch für die Gesundheitsdaten z.B. der amtlichen Statistik, die bereits gut aufbereitet verfügbar sind, aber in der Politik wenig beachtet werden. Ohne gute Daten keine gute Forschung, keine gute Prävention und keine gute Versorgung. Der vielzitierte Spruch, Daten seien das Gold des 21. Jahrhunderts, gilt auch im Gesundheitswesen. Aber bekanntlich waren auch in der Vergangenheit nie die Wasserhähne des kleinen Mannes (oder der kleinen Frau) aus Gold, das war den Reichen, den wirklich Reichen vorbehalten. Heute haben sie Superyachten mit goldenem Inventar.

Nach Lauterbach schafft das Gesundheitsdatennutzungsgesetz zusammen mit der elektronischen Patientenakte den größten Gesundheitsdatenpool der Welt. Daten zu ambulanten Behandlungen, zu Krankenhausbehandlungen, Röntgenbilder usw. – alles elektronisch verfügbar. Auf europäischer Ebene soll der European Health Data Space (EHDS) den Rahmen für den Zugang zu den Gesundheitsdaten für die ganze EU setzen. Die Daten sollen – natürlich – den Patient:innen alles leichter machen, aber sie sollen auch für die Forschung zugänglich sein, und wer am Wort „Forschung“ an der richtigen Stelle kratzt, wird sehen, dass sich darunter nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene die Industrie verbirgt. Die Frage, wem die Gesundheitsdaten nutzen, wer die Kontrolle über diese Daten hat, wer den Zugang, und wer die technischen Tools besitzt, ist nur zu berechtigt.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitswesens wird möglicherweise zugleich der Boden für das Funktionieren des Digitalen Kapitalismus auch im Gesundheitsbereich bereitet. Ende 2024, die zweite Präsidentschaft Trumps ante portas, sagte Lauterbach bei der Digital Health Conference des Bitcom:

„Daher interessieren sich auch die Hersteller aller großen KI-Systeme für diesen Datensatz. Wir sind im Gespräch mit Meta, mit OpenAI, mit Google, alle sind daran interessiert, ihre Sprachmodelle für diesen Datensatz zu nutzen, beziehungsweise an diesem Datensatz zu arbeiten.“

Meta und Google sind bisher nicht als Arzneimittelhersteller in Erscheinung getreten. Sie sind vielmehr Säulen des digitalen Kapitalismus. Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen, um zu vermuten, dass die digitale Aneignung der Gesundheitsmärkte auf ihrer Agenda steht. Auch wenn die Daten des EDHS angeblich nicht in ihre Clouds fließen, werden sie daran arbeiten, den Zugang zu diesen Daten und den damit verbundenen Leistungen im Gesundheitswesen technisch zu kontrollieren. Es lohnt sich. Allein in Deutschland betrugen 2022 die Gesundheitsausgaben knapp 500 Mrd. Euro. Das Gesundheitswesen ist aufgrund der Besonderheiten von Nachfrage, Angebot und Finanzierungswegen vermutlich nicht ohne Weiteres von den Tech-Konzernen nach dem Muster des Digitalen Kapitalismus zu übernehmen, zumal nicht in Europa mit seinen staatlichen und parafiskalischen Akteuren, aber womöglich gelingt ihnen die Kontrolle von Teilbereichen, bei denen Angebot und Nachfrage den normalen Märkten ähnlicher sind.

Es mag eine Dystopie bleiben, dass die Tech-Konzerne in einigen Jahren nicht nur personalisierte Gesundheitstipps liefern, sondern auch die Arzttermine verwalten, den Krankenhäusern Lieferanten vermitteln und der Politik eine KI-optimierte Gesundheitspolitik andienen, aber nur, wenn es gemeinwohlverpflichtete Instanzen gibt, die mit Fachkompetenz und Durchsetzungsmacht die weitere Entwicklung begleiten. Der Kapitalismus als „Allesfresser“ (Nancy Fraser) musste immer eingehegt werden, durch Arbeitsschutzregeln, Umweltschutzregeln, Mitbestimmungsrechte. Das wird im digitalen Kapitalismus nicht anders sein, er braucht ebenfalls Regulation, auch wenn die Trump-Administration mit Musk & Co. auf dem Rücksitz genau das nicht will, weil es die Macht der amerikanischen Digitalkonzerne beschneiden würde. Diese Macht ist, wie man gerade in den USA sehen kann, unmittelbar politische und demokratiegefährdende Macht.


Edit: Zeitpunkt der Bitcom-Konferenz korrigiert.



Comments

5 Antworten zu „Digitaler Kapitalismus im Gesundheitswesen“

  1. BPR

    Versorgungsforschung organisiert sich auch ohne die großen Kommunikations-Konzerne. Ein Beitrag dazu ist, ohnehin anfallende Beobachtungsdaten durch Standardisierung aufzuwerten und für Auswertungen verfügbar zu machen. Dies hat sich ein 2014 gegründetes gemeinnütziges (non-profit) Netzwerk zum Ziel gesetzt, die Observational Medical Outcomes Partnership (OMOP), jetzt Observational Health Data Sciences and Informatics (OHDSI, pronounced “Odyssey”). Das Koordinierungszentrum ist bei der Columbia University angesiedelt. Die Webseite listet mehr als 4200 Mitwirkende auf allen Kontinenten außer der Antarktis, darunter auch Vertrreter von Pharma-Firmen (https://ohdsi.org/who-we-are/collaborators/). Offenheit und Austausch werden groß geschrieben.

    Mindestens eine deutsche Arbeitsgruppe prüft, wie deutsche Routinedaten in das OMOP-Datenmodell integriert werden können:
    Henke E, Zoch M, Peng Y, Reinecke I, Sedlmayr M, Bathelt F (2024) Conceptual design of a generic data harmonization process for OMOP common data model. BMC Med Inform Decis Mak 24:58. doi:10.1186/s12911-024-02458-7

    1. leben-und-geld

      @ BPR:

      „Das Koordinierungszentrum ist bei der Columbia University angesiedelt.“

      Und die technische Infrastruktur wird von wem kontrolliert?

      Da ist künftig mit allem Möglichen zu rechnen. Was z.B. tun, wenn Pubmed („An official website of the United States government“) plötzlich nicht mehr frei zur Verfügung steht? Dazu gab es beim Cochrane-Symposium letzte Woche eine Extra-Session, auch mit Blick auf die Folgen für das IQWIG. Oder was tun, wenn Trump die Executive Order 14086 widerruft, dann dürfen nach EU-Recht keine Daten mehr in US-Clouds, aber technisch gibt es u.U. keine Alternative. Siehe dazu: https://www.sueddeutsche.de/kultur/max-schrems-transatlantischer-datenverkehr-li.3226552?reduced=true

  2. BPR

    Berechtigte Besorgnis – das Rückgrat der Columbia University, sich Anmutungen der US-Administration des Tages zu widersetzen, darf man nicht überschätzen. Dasselbe trifft für andere Universitäten und Behörden zu, die von US-Staatsmitteln abhängen. Insofern gilt bei der Wissenschaftskommunikation dasselbe wie bei der Verteidigungszusammenarbeit: Abhängigkeit von den USA jetzt reduzieren, am besten im Ansatz vermeiden. Eine analoge Folgerung hatte „Corona“ für Lieferketten mit Flaschenhals China oder Indien aufgedeckt.

    Wenn die Wissenschaftsfreiheit in den USA eingeschränkt wird – Gesundheitsminister JFKjr ist gerade dabei – wächst die Bedeutung der (noch) freien Welt. Das spricht aus meiner Sicht nicht gegen, sondern für intensive weltweite Zusammenarbeit auf kollegialer Ebene.

  3. BPR

    PS: RFK jr natürlich, sorry

  4. leben-und-geld

    Die Möhre vor der Nase

    Auf 42 Mrd. Euro jährlich hat McKinsey 2022 die potentiellen Erträge im Gesundheitswesen durch Digitalisierung taxiert: https://www.mckinsey.de/news/presse/2022-05-24-42-mrd-euro-chance. Allein die ePA soll 6,4 Mrd. Euro bringen.

    Und niemand würde dabei etwas verlieren: „Wir reden von einer 42-Milliarden-Euro-Chance, von der alle im Gesundheitswesen profitieren könnten“. Alle profitieren, niemand verliert etwas? Nicht, dass man Effizienzgewinne durch Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht realisieren sollte, aber ob die Rechnung wirklich als reines win-win aufgeht?

    Staatsleistungen

    Entgegen des vielfach gepflegten Mythos der Garagen-Genies aus dem Silicon Valley, die ganz alleine multimilliardenschwere Unternehmen hochgezogen und nebenbei die Transformation der Wirtschaft ins digitale Zeitalter gestemmt haben, ist man sich in der Soziologie doch ziemlich sicher, dass der Staat auch hier erheblichen Anteil hat. Einer aktuellen Studie des ZEW für Agora Digitale Transformation zufolge waren im Bundeshaushalt 2023 und 2024 jeweils ca. 20 Mrd. Euro für die Digitalisierung in den verschiedenen Politikfeldern veranschlagt. Im Gesundheitswesen war es vergleichsweise wenig (gut 1 Mrd.), aber hier werden grundlegende Infrastrukturausgaben über die Parafisci getätigt, also durch indirekte Staatsleistungen.

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