Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland

Vor ein paar Tagen hatte ich nebenan bei Scienceblogs Karl Lauterbachs Eröffnungsrede zum Kongress Armut und Gesundheit kommentiert. Unter anderem hatte er dabei auch gesagt, die soziale Ungleichheit in Deutschland nehme zu. Gefühlt ist das sicher so, und je nachdem, wie man die soziale Ungleichheit misst und welche Daten man dazu heranzieht, kommt man auch zu etwas unterschiedlichen Ergebnissen. Insofern will ich diese Bemerkung nicht auf die Goldwaage legen. Hätte er die Datenlage gekannt, hätte er den zuletzt gemessenen kleinen Rückgang womöglich als Erfolg der Bundesregierung verkauft, das hätte die Sache nicht besser gemacht.

Ein gängiges Maß für soziale Ungleichheit ist der „Gini-Koeffizient“, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini. Er nimmt Werte zwischen 1 (maximale Ungleichheit) und 0 (Gleichverteilung) an. Der Gini-Koeffizient misst also nicht das Wohlstandsniveau: er ist in Ostdeutschland deutlich niedriger als in Westdeutschland, obwohl die Einkommen im Westen im Durchschnitt höher sind. Bei Wikipedia wird die Grundidee des Gini-Koeffizienten anschaulich erklärt, auf die Feinheiten kommt es hier nicht an.

Legt man die Daten der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung zugrunde, wie sie das Statistische Bundesamt ausweist, so zeigt sich in den letzten Jahren weder beim Einkommen noch beim Vermögen eine Zunahme sozialer Ungleichheit. Allerdings gilt es zu bedenken, dass die zeitweise horrende Inflation einkommensschwächere Gruppen erheblich in Bedrängnis gebracht hat, was sich so nicht im Gini-Koeffizienten niederschlägt. Des Weiteren gib die folgende Grafik die Einkommensverteilung nach Sozialtransfers wieder, nicht die Ungleichheit der Markteinkommen. Im zeitlichen Trend der letzten Jahre gibt es bei den Gini-Koeffizienten vor und nach Sozialtransfer zwar keine relevanten Unterschiede, aber für die psychologische Wahrnehmung sozialer Ungleichheit ist es sicher nicht folgenlos, ob man sein Geld durch seine eigene Arbeit verdient oder auf Sozialleistungen angewiesen ist. Vor Sozialtransfers lag der Gini-Koeffizient in Deutschland 2022 bei 0,353, nach Sozialtransfers bei 0,288. Dieser Sachverhalt wiegt in einer Gesellschaft, die das Versprechen „Wohlstand für alle“ bemüht, besonders. Ungleichheit einerseits als Motivation für mehr Anstrengung in der Arbeitswelt zu legitimieren und andererseits dann, wenn das Wohlstandsversprechen für die sozial Benachteiligten brüchig wird, von „Sozialneid“ zu sprechen, ist für die politische Kommunikation ein schmaler Grat.

Das wird deutlicher, geht man in der Zeit etwas länger zurück. In den 1990er Jahren war die Einkommensungleichheit deutlich niedriger als heute, wie z.B. der WSI-Verteilungsmonitor dokumentiert. Den niedrigsten Wert in den letzten 30 Jahren wies das Jahr 1999 mit einem Gini-Koeffizienten von 0,248 auf.

Bei der Vermögensverteilung in Deutschland ist zwar den Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge ebenfalls kein Anstieg festzustellen, sie ist aber mit einem Gini-Koeffizienten von 0,727 im Jahr 2022 viel ausgeprägter als die Ungleichheit der Einkommen:

Dabei konzentrieren sich nicht nur die ganz großen Vermögen in Deutschland auf einen kleinen Kreis reicher Leute. Eine wichtige Rolle spielt hier auch, dass Deutschland eine der niedrigsten Wohneigentumsquoten in Europa hat, etwa 20 % unter dem europäischen Durchschnitt. Die sog. „vermögenswirksamen Leistungen“, mit denen die Bundesregierung die Vermögensbildung der Beschäftigten fördern will, werden daran gewiss nichts ändern. Sie belaufen sich derzeit auf 40 Euro im Monat. Damit hat man ein Reihenhaus im Münchner Umland in ca. 2.000 Jahren angespart. Das erleben die Wenigsten.

Umverteilung hat in Deutschland trotzdem keinen guten Ruf. Gegen eine Korrektur der am Markt entstandenen Ungleichheit gibt es großen Widerstand. Der Mindestlohn beispielsweise wurde lange mit dem Argument bekämpft, er schade der Wirtschaft und vernichte Arbeitsplätze, bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer wird mit der gleichen Gefahr gedroht. Bei der Erbschaftssteuer kommt oft noch das das eigenartige Argument dazu, dieses Vermögen sei doch schon vom Erblasser versteuert worden und dürfe nicht noch ein zweites Mal versteuert werden. Würde man, wenn man von seinem bereits versteuerten Einkommen Lebensmittel kauft oder Benzin tankt, fragen, warum man hier über Verbrauchssteuern erneut zur Kasse gebeten wird, würde das als Argument vermutlich kaum verfangen. Ist halt so.

Darüber, dass soziale Ungleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, muss man eigentlich keine Worte mehr verlieren. Es gibt vermutlich keinen epidemiologischen Befund, der durch mehr Studien belegt ist. Von daher wäre es interessanter gewesen, Karl Lauterbach hätte bei seiner Rede mehr darüber gesprochen, warum die Politik bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit nicht wirklich vorankommt, was das mit Machtverhältnissen zu tun hat, mit der Globalisierung, veränderten Arbeitsmärkten, schwächelnden Gewerkschaften, vielleicht auch mit Ideologie und fehlender Aufklärung außerhalb der Medizin, statt nur einmal mehr die Erwartungshaltung des Publikums zu bedienen, dass soziale Ungleichheit krank macht.


Der Beitrag wurde inzwischen auch auf Makroskop veröffentlicht: https://makroskop.eu/12-2024/gesundheit-gini-koeffizient-und-globalisierung/


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Comments

13 Antworten zu „Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland“

  1. hto

    „Wettbewerbsbedingte Ungleichheit und …“ würde die Überschrift wahrhaftiger lauten.

  2. Dr. Webbaer

    „Allerdings gilt es zu bedenken, dass die zeitweise horrende Inflation einkommensschwächere Gruppen erheblich in Bedrängnis gebracht hat, was sich so nicht im Gini-Koeffizienten niederschlägt. “

    Nicht nur in der BRD sind die ganz einkommenschwachen Gruppen betroffen, die ca. in den letzten zehn Jahren mit der ca. Verdoppelung der Preise für sog. Grundnahrungsmittel zu rechnen hatten.
    Oder gibt es dazu andere Daten?

    Ansonsten ist der Gini-Koeffizient der allgemeinen Einkommensentwicklung, sofern sie alle Schichten erfast, was idR der Fall ist, unterlegen, dieser Koeffizient meint die Verteilung und mehr Einkommen für alle wäre selbst dann sehr gut, wenn dieser Koeffezient sich erhöht.

    Soziale Ungerechtigkeit ist in nicht streng kollektivistischen Systemen, gerade auch im Gesundheitswesen, unvermeidbar.
    Früher redeten Politiker, dies scheint aufgehört zu haben, bundesdeutsche Politiker manchmal so, beispielhaft zitiert „Es darf keine Zwei-Klassen-Medizin!“ geben, so war immer Populismus.

    Randbemerkung ‚:
    Auch in kollektivistischen Herrschaftssystemen gibt es sehr ungleiche medizinische Versorgung, im Ostblock wurde bspw. seinerzeit stets dem Arzt Geld zugesteckt, wenn es sozusagen ernst wurde.

    MFG – WB

    1. leben-und-geld

      @ Webbär:

      „Oder gibt es dazu andere Daten?“

      Daten dazu sollte es bei Eurostat jedenfalls geben, ob andere, weiß ich nicht.

      „mehr Einkommen für alle wäre selbst dann sehr gut, wenn dieser Koeffezient sich erhöht“

      Im Prinzip ja.

      „Soziale Ungerechtigkeit ist (…) auch im Gesundheitswesen, unvermeidbar.“

      Soziale Ungleichheit wird es wohl immer geben, aber soziale Ungerechtigkeit sollte man nach Möglichkeit vermeiden.

      1. Dr. Webbaer

        Man kommt halt nicht aus dem Problem, der Falle sozusagen, heraus, die grundsätzlich bereits die Erbschaft meint.
        In liberalen Gesellschafts-, Herrschaftssystemen.
        Vielen Dank für die Reaktion, der Schreiber dieser Zeilen sieht Sie als sehr sozial bemüht an
        Dr. Webbaer

        1. Dr. Webbaer

          Habe gerade erst verstanden, wer hier schreibt, den Primärinhalt meinend, ich ging von einer anderen, jungen Person aus, bitte richtig verstehen : Gute Arbeit, bin u.a. auch sehr an der Frage interessiert, warum ein so großartiges Gesellschafts- / Herrschaftssystem nicht mehr für die sog. einkommenschwachen Gruppen leistet.
          MFG – WB

  3. Dr. Webbaer

    Bei der Erbschaftssteuer kommt oft noch das das eigenartige Argument dazu, dieses Vermögen sei doch schon vom Erblasser versteuert worden und dürfe nicht noch ein zweites Mal versteuert werden. Würde man, wenn man von seinem bereits versteuerten Einkommen Lebensmittel kauft oder Benzin tankt, fragen, warum man hier über Verbrauchssteuern erneut zur Kasse gebeten wird, würde das als Argument vermutlich kaum verfangen. Ist halt so. [Artikeltext]

    Es können Erbgeber nicht davon abgehalten werden, letztlich an der Steuer vorbei, an die Erbnehmer (vorzeitig, vor dem Exitus) zu schenken, indirekt, irgendwie, da kann der Staat kein Auge drauf haben.

    Es geht den Staat, aus liberaler Sicht, auch nichts an, wenn der potentielle Erbgeber seinen Nachkommen etwas schenkt oder anderweitig. dann nicht als Schenkung erkennbar, etwas gibt.
    Aus versteuertem Einkommen, aus Besitz, als Eigentum.

    Es ist aus diesseitiger Sicht witzig, wenn so versucht wird, es funktioniert nicht, und permanent kann der Staat ja auch nicht wie gemeint beobachten und die Sanktionierung suchen?

    Die wie hier gemeinte Doppelbestuerung ist insofern manchmal schlecht vollziehbar, außerdem sollten, aus diesseitiger Sicht, RENTNER nicht mehrfach gerupft werden.
    Das Rentenniveau der BRD ist bekannt?
    Ist bekannt, wie „Superreiche“ steuerlich in der BRD sozusagen navigieren?

    Es gibt aus diesseitiger Sicht eine internationale, globalistische, Schicht, die versucht, mit extra-ordinären Erfolg, Bundesbürger zu rupfen.
    Mini-Rente,. hohe Steuer- und Abgabenbelastung und so weiter.


    Hier könnte Dr. W sozusagen Alles (groß geschrieben) beisteuern, oder Allem beistimmen, wie vom werten hiesigen Inhaltegber möglicherweise angedacht.
    Sofern so zumindest ähnlich angedacht.

    Wer etwas für diejenigen Leutz tun möchte, die der sog. Eigengruppe angehören, muss kein X-Ist, sondern kann auch vernünftig sein.

    MFG – WB (kein Bundesbürger)

  4. DH

    Mag sich nicht viel verändert haben in den letzten Jahren, aber von welchem Niveau kommend, oben wird denn auch zurecht auf 1990 verwiesen.
    Die obere Hälfte hat fast alles an Vermögen, die oberen 10 Prozent das meiste davon, das oberste eine Prozent das meiste hiervon, und sogar in den oberen 0,1 Prozent soll es eine Konzenztration geben.
    Solche Verteilungen sind auch mit den äquivalenten Verteilungen von Macht verbunden, Stichwort Lobbyismus, mit gravierenden Folgen für die Demokratie.
    „Umverteilung hat in Deutschland trotzdem keinen guten Ruf.“
    Doch hat sie, die nach unten, die von Problemen- Umweltproblemen, schlechter Infrastruktur, Migrationsproblemen, „Engpässen“ am Wohnungsmarkt….

  5. uwe hauptschueler

    Es können Erbgeber nicht davon abgehalten werden, letztlich an der Steuer vorbei, an die Erbnehmer (vorzeitig, vor dem Exitus) zu schenken, indirekt, irgendwie, da kann der Staat kein Auge drauf haben.

    Wunschdenken

    Die Schenkungsteuer ist eine Steuer, die auf unentgeltliche Zuwendungen unter Lebenden (Schenkungen) erhoben wird.

    Q.:https://de.wikipedia.org/wiki/Schenkungssteuer

    1. PDP10

      @uwe hauptschueler:

      Für die Schenkungssteuer gibt es aber für die nächsten Verwandten sehr hohe Freibeträge. Für Eheleute 500.000 Euro und für Kinder 400.000 Euro (jeweils für 10 Jahre). Ein Millionenvermögen lässt sich so relativ leicht steuerfrei an die nächste Generation „vererben“.

  6. DH

    Zwei weitere Probleme sind die erhobenen Daten und Steuerhinterziehung. Kritiker sagen die Daten seien womöglich noch weiter auseinander weil der tatsächliche Reichtum oben nicht ausreichend erfasst wird, wegen, sagen wir, einer gewissen Zurückhaltung der Reichsten bei der Herausgabe.
    Auch sagt der Ginikoeffizient nichts über Folgen und Ursachen der Ungleichheit, zu denen auch geschätzte 100 Milliarden Euro zusätzlich gehören die jährlich zu erheben wären von allen öffentlichen Haushalten, nach geltendem Recht, aber einfach nicht erhoben werden- Verena Bentele, VdK, geht sogar von 150 Mrd aus.
    Der Koeffizient hat was von einer „Gini in a bottle“, man kann seriös damit arbeiten, wie im Artikel, oder nach Prinzip „Wünsch dir was“.

  7. PDP10

    Zum Thema passend wurde gerade eine Stellungnahme des Europarats veröffentlicht (der keine Institution der EU ist, auch wenn man das leicht verwechseln kann, sondern eine supranationale Organisation ohne politische Macht, aber trotzdem nicht ganz unwichtig. Siehe Wikipedia Artikel).

    https://www.tagesschau.de/inland/europarat-armut-deutschland-100.html

  8. PDP10

    @Joseph Kuhn:

    BTW: Die Vorschau für Kommentare zu aktivieren wäre auch hier nicht so das schlechteste …

    1. leben-und-geld

      @ PDP10:

      Diese Option ist für mich nicht verfügbar.

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