Wirtschaftskrise und Aktienboom

Vermutlich reiben sich nicht wenige Leute gerade die Augen: Wie kann es sein, dass die deutsche Wirtschaft nach allgemeiner Einschätzung in einer tiefen Krise steckt, das BIP stagniert, und gleichzeitig eilt der DAX von Rekord zu Rekord. Bei 18.500 steht er gerade.

In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein Interview mit Gary Stevenson, der vor einigen Jahren für die Citibank als Börsenhändler gearbeitet und Millionen verdient hat. Nach einer Depression stieg er dort aus engagiert sich seitdem gegen soziale Ungleichheit.

In dem Interview kommentiert er auch die Gleichzeitigkeit von Wirtschaftskrise und Aktienboom:

„Es sollte langsam offensichtlich sein, dass ökonomische Schwäche die Aktien steigen lässt. 2008 ging es kurzfristig nach unten, langfristig kam es zu einem enormen Anstieg. In der Covid-Krise genau dasselbe. Staaten auf der ganzen Welt häuften unglaubliche Defizite an. Mit dem Geld wurde Unternehmen geholfen. Die Arbeiter hatten danach trotzdem weniger, weil ihr Einkommen sank und die Inflation stieg. Das Geld landete bei den Reichen, die in der Covid-Zeit ihre Ausgaben einschränkten. Die offensichtlichste Folge daraus ist ein extremer Anstieg der Aktienkurse. Weil Reiche an der Börse investieren, wenn man ihnen Geld gibt. Es wundert mich, warum das so viele Leute überrascht, auch die Finanzexperten.“

Andere Beobachter haben andere Erklärungen. Beim Recherchenetzwerk Deutschland etwa heißt es:

„Analystinnen und Analysten sind sich einig: Das Prinzip Hoffnung spielt eine entscheidende Rolle. Angesichts der sinkenden Inflation wetten die Märkte auf Zinssenkungen – vor allem durch die Europäische Zentralbank und die US-Notenbank Fed. (…) Viele Händlerinnen und Händler gehen offenbar davon aus, dass die Wirtschaft ihre Talsohle durchschritten hat. Darüber hinaus gilt, dass viele Dax-Konzerne einen großen Teil ihrer Gewinne im Ausland erwirtschaften und sich damit ein Stück weit von der deutschen Konjunktur abgekoppelt haben.“

Auch die „Tagesschau“ fragt sich, wie Krise und Aktienrekorde zusammenpassen und verweist ebenfalls auf die Impulse aus dem Ausland:

„‘Der Blick nach Deutschland, der kann schon depressiv machen. Wir haben eine Rezession, wir haben enorme Standortprobleme, enorme Probleme mit der Bürokratie‘, sagt Stefan Riße, Anlagestratege beim Vermögensverwalter Acatis. ‚Aber die Unternehmen, die in Deutschland sitzen – die Großen -, machen ihr Geschäft nur zu Teilen in Deutschland und ansonsten im Rest der Welt, zum Beispiel in den USA, wo die Wirtschaft immer noch gut läuft.‘“

Beim „Business-Insider“ werden sechs Gründe angegeben, darunter auch die Erwartungen an die Künstliche Intelligenz:

„1. Die großen Dax-Aktien steigen, kleine und mittlere Werte aber nicht
2. Deutsche Unternehmen heißt nicht Geschäft in Deutschland
3. Aktienkurse spiegeln die Erwartungen, nicht die Lage
4. Künstliche Intelligenz weckt große Hoffnungen
5. Hoffnung auf Zinssenkungen treibt die Kurse
6. Die jüngsten Krisen sind eingepreist“

Zu jedem der sechs Punkte kann man dort eine kleine Erläuterung mit Zitaten von Analysten nachlesen.

Ulrike Herrmann konstatiert bei der taz angesichts von Rekordwerten beim DAX, dass sich Börse und Realität entkoppelt hätten und einfach der Kreislauf von Kaufen und Verkaufen die Kurse treibt:

„Börsenkurse aufzupumpen ist nämlich ziemlich einfach. Es ist nur relativ wenig zusätzliches Kapital nötig, um den DAX nach oben zu treiben, weil es zu einem ewigen Kreislauf des Geldes kommt. Der Zusammenhang ist schlicht: Wenn jemand eine Aktie kaufen will, muss ein anderer sie verkaufen.“

Aber: Das hat sie vor ziemlich genau einem Jahr geschrieben, als das Geld noch extrem billig war. Das Interview mit Gary Stevenson hätte damals auch gepasst.

Vermutlich gibt es in den unendlichen Weiten des Webs noch manch andere Erklärung für die Gleichzeitigkeit von Krise und Aktienboom. Ich persönlich neige dazu, hier die Dialektik des monetären Weltgeistes am Werk zu sehen, mit These und Antithese bei der Bewertung, ob es uns gut geht oder schlecht, und einer Synthese in der Beobachterrelativität dieser Bewertung. Aber ich gebe zu, diese Erklärung würde am 1. April besser passen.



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Comments

4 Antworten zu „Wirtschaftskrise und Aktienboom“

  1. rolak 麻

    Es scheint mir eine unlösbare Aufgabe, das Geschehen in den Spielbanken der Wirtschaftssysteme mit einem rationalen Modell erfassen zu wollen.

    Gabs da nicht sogar mal einen Testlauf mit Tieren, die auf irgendeine Weise ihre deals abschlossen – und auch noch grandios gut abschnitten? Find ich grad nicht…

    1. leben-und-geld

      @ rolak:

      Die Spielbanktheorie mit all ihren Elementen des Aberglaubens, was hilft, hat auf jeden Fall auch was für sich.

      Tiere an der Börse: https://www.welt.de/finanzen/article115382089/Affen-machen-mehr-Gewinne-als-Investoren.html

      Das erklärt sicher auch manches, aber das Nebeneinander von Wirtschaftskrise und Aktienboom eher nicht.

    2. rolak 麻

      Danke für den link, leben-und-geld – 2013, doch nicht so lange her wie vermutet. Und Affen, klar, einerseits weil naheliegend und andererseits, wenn sie die üblichen Börsianer schon zum Affen machen…

      Das erklärt (..) eher nicht

      Das sollte auch nur erklären, daß dies Gebiet nicht rein rational abgedeckt werden kann. Wenn ich für den (nicht nur) aktuellen Fall raten soll: etwas psychologisch Ähnliches wie bei (Währungs)Krisen der run auf Handfestes wie Gold etc, letzteres boomt zur Zeit ja ebenfalls.

  2. RGS

    Ich weiß nicht, ob das alles so geheimnisvoll ist?
    Was ja wohl klar ist, es gibt große Transformationen in der Wirtschaft:
    – die Automobilindustrie schrumpft. Die „deutschen“ E-Autos sind zu teuer. Die Verbrenner werden weniger produziert. Für die Herstellung eines E-Autos braucht man weniger Teile also fallen 1/4 der Arbeitsplätze weg, las ich gerade.
    – Die Bauindustrie ist abgewürgt durch Zinsschock und Baukostenschock.
    – der Einzelhandel dümpelt in einigen Bereichen: Textil, … Die Leute haben weniger Geld wegen des Energiepreisschocks. Arbeitsplätze fallen weg. Siehe Leerstände in den Innenstädten.
    – die Regierung erhöht gerade wieder die Preise und die Inflation durch die Mehrwertsteuererhöhung auf Gas von 7 auf 19% und die jährliche Steigerung der CO2 Preise.
    – Mieten werden immer teurer weil die Nachfrage weiter steigt durch die Trends:
    -mehr Einzelhaushalte
    -mehr Wohnfläche pro Person
    -Investitionen in die energetische Sanierung, Umstellung der Energieversorgung.
    -Steigende Einwohnerzahl

    Gleichzeitig wachsen andere Bereiche:
    -Gesundheitssektor
    -Erneuerbare Energien
    -…

    Deutschlands Dienstleistungssektor ist unterentwickelt insgesamt betrachtet, wird behauptet. Dazu hätte ich gerne mal eine Analyse.

    Die Bevölkerungszahl wächst, was eine Steigerung des BIP bewirkt.

    Die Stimmung im Land ist übel, was auch nicht hilft. Der großen Mehrheit im Land geht es gut.

    Viele (Aktien)-Unternehmen (z.B. Lebensmittelkonzerne) machen Rekordgewinne weil sie in der Krise Preiserhöhungen durchsetzen konnten die höher sind als die Kostensteigerungen. Viele zahlen höhere Dividenden.

    Gleichzeitig streicht die Regierung Investitionen und Förderprogramme in die Transformation. Das führt dazu, dass Investitionen vor allem auch aus dem Privatsektor in unsere Infrastruktur unterbleiben. (Verkehr, Bau, Energie, …)

    Der Privatsektor legt dann sein Geld woanders an in Ländern innerhalb der EU oder außerhalb wo in die Transformation investiert wird.

    Schuld daran sind viele, meiner Meinung nach. Zuvorderst „altbackene“ Ökonomen, die die Politik falsch beraten. Unsere ökonomischen Glaubensbekenntnisse: -„die schwäbische Hausfrau“: Schulden sind immer bäbä!
    -…
    Unsere mangelnde ökonomische Bildung.

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