Deutschlands Wirtschaft, die in den letzten Jahren von billiger Energie aus Russland, der Erschließung des chinesischen Marktes, von Lohnzurückhaltung und vom Sparen bei öffentlichen Investitionen profitiert hat, ist ins Stolpern geraten. Politische Lösungen sind gefragt, aber sie liegen nicht einfach auf der Hand.
Die Reaktion konservativer und wirtschaftsliberaler Kräfte in der Politik war allerdings erwartbar: „Wir müssen den Gürtel enger schnallen und wieder mehr arbeiten“. Den Gürtel enger schnallen sollen natürlich nicht die Reichen, sondern die Beschäftigten und die, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Die strukturelle Schwäche der Wirtschaft wird damit aber nicht behoben, sondern nur in einen sozialen Gruppenkonflikt transformiert.
Paradigmatisch dafür steht das “Wirtschaftswende-Papier“ der FDP. In diesem Papier sucht man vergeblich Antworten darauf, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die wettbewerbsfähig ist, möglichst klimaneutral, und zugleich eine gute Bildung im Land, eine menschenwürdige Pflege, bezahlbaren Wohnraum sowie eine starke öffentliche Infrastruktur im Land sichert. Kein Wort findet sich zu Themen wie Steuerhinterziehung, Erbschaftssteuer, Dienstwagenprivileg oder dergleichen, nichts zu Forschungsförderung, nur sehr wenig zu Fragen der Investitionspolitik. Stattdessen geht es die „Entfesselung von Innovationskräften“, sprich die Befreiung der Wirtschaft von Auflagen und sozialpolitisch im Zentrum steht dabei die Mobilisierung gängiger Vorurteile gegen faule Menschen in der sozialen Hängematte. Explizit werden „Arbeitsanreize“ und ein „Moratorium für Sozialleistungen“ gefordert.
Die angeblich lasche Arbeitsmoral der Beschäftigten wird auch in den öffentlichen Statements der Wirtschaftswender jetzt immer wieder angesprochen. Studien, die eine Zunahme von Stress am Arbeitsplatz dokumentieren, hohe Kosten durch Burnout oder den kontinuierlichen Anstieg der Krankschreibungen infolge psychischer Störungen, zählen nicht mehr. Eingeräumt wird zwar, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden derzeit so hoch wie nie ist, aber die Einzelnen würden zu wenig arbeiten, sprich, die Beschäftigten seien zu faul. Wirtschaftsvertreter polemisieren neuerdings gegen die „Work-Life-Balance“, die sie lange auch gut fanden. Dem sekundierte vor kurzem auch der bayerische Ministerpräsident Söder: Nur mit Teilzeit und Homeoffice würde man im weltweiten Wettbewerb nicht bestehen. Das ist an sich gar nicht verkehrt, aber was braucht es denn noch? Wird Energie billiger, wenn alle mehr arbeiten? Sinken dann die Mieten in den Ballungsräumen? Wird die Pflegemisere besser, wenn die Pflegekräfte länger arbeiten? Und die Bahn wird endlich pünktlicher? Oder spielt das eh alles keine Rolle, weil das keine wettbewerbsrelevanten Themen sind, sondern nur Sozialklimbim?
Nur, was wäre dann das Ziel von mehr Wettbewerbsfähigkeit? Dass Deutschland seinen Rangplatz im internationalen Vergleich verbessert? Sollte es letztlich nicht doch um ein besseres Leben gehen, um Lebensqualität, um einen Alltag, der nicht nur vom Kampf ums nackte Überleben geprägt ist?
Was die individuelle Arbeitszeit angeht, soll man jetzt also nicht mehr stolz darauf sein, durch eine hohe Arbeitsproduktivität etwas kürzer arbeiten zu können und Zeitwohlstand gewonnen zu haben, auch Ausgleichszeit für hohen Leistungsdruck, sondern das gilt jetzt wieder als Bequemlichkeit und Leistungsschwäche.
Den Daten von Eurostat zufolge arbeiten die Deutschen im europäischen Vergleich in der Tat weniger als die meisten anderen:
Aber wenn man anschaut, welche Länder die Arbeitszeittabelle anführen, sind das nicht unbedingt die Vorbilder an wirtschaftlicher Leistungsstärke. Nur auf die absolute Zahl der Arbeitsstunden pro Kopf zu schauen und von da auf die volkswirtschaftliche Leistungsstärke zu schließen, ist eine ökonomische Milchmädchenrechnung. Wenn mehr Frauen arbeiten können, weil sie das in Teilzeit oder im Homeoffice machen dürfen, steigt die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden. Ebenso, wenn sie durch Kita-Plätze entlastet werden oder weniger als pflegende Angehörige unentgeltlich tätig sein müssen. Ebenso stärkt es die Wirtschaft, wenn die Bahn zuverlässig Güter und Menschen transportiert, wenn in Ballungsräumen auch Menschen Wohnungen finden, die Brötchen backen, Wasserleitungen reparieren oder die Wohnungen der selbsternannten Leistungselite putzen. Ebenso, wenn Beschäftigte attraktive und motivierende Arbeitsbedingungen vorfinden, statt durch zu viel Leistungsdruck zu erkranken.
Das Papier der FDP ist kein Wirtschaftswende-Papier, sondern ein Sozialwende-Papier. Es lässt befürchten, dass die sozialpolitischen Auseinandersetzungen künftig wieder mehr im ideologischen Überbau geführt werden, statt sich mit den tatsächlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen und deren Zusammenhang miteinander zu beschäftigten. Wie die Menschen, denen ja nicht verborgen bleibt, wie der Reichtum am oberen Ende der Verteilung ausufert, während gleichzeitig ihre eigenen Alltagssorgen wachsen, darauf politisch reagieren, bleibt abzuwarten. Die ursprüngliche Fassung des Heizungsgesetzes ist zu Recht an sozialpolitischer Blindheit gescheitert, mit der „Wirtschaftswende“ scheint man diesen Fehler jetzt in Groß wiederholen zu wollen.
Auch diesen Beitrag hat Makroskop netterweise übernommen: https://makroskop.eu/15-2024/wirtschaftswende-sozialpolitische-wende-wende-ruckwarts/
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