Mehr arbeiten, sonst …

Der sozialpolitische Wind weht in Deutschland wieder kälter. Das Werben um die knappen Beschäftigten mit attraktiven Arbeitsbedingungen wird zunehmend durch andere Stimmen abgelöst, die meinen, es müsse wieder mehr gearbeitet werden. Manchmal werden dazu Daten des Statistischen Bundesamtes zitiert, wonach 2023 in Deutschland 34,4 Wochenarbeitsstunden geleistet wurden, in der EU27 dagegen 36,9. Der Untergang des Abendlandes in den Grenzen des deutschen Freizeitparks, von wirtschaftsnahen Stimmen gefühlt und statistisch belegt.

Dass das Statistische Bundesamt ausdrücklich darauf hinweist, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit maßgeblich durch die Teilzeitquote mitbestimmt wird und die Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten seit 30 Jahren recht unverändert ist, fällt dann schnell unter den Tisch. Ebenso, dass die Gesamtzahl der Arbeitsstunden in Deutschland 2023 mit fast 62 Millionen Stunden sogar etwas höher lag als vor 30 Jahren mit gut 60 Millionen Stunden. Die Arbeitsproduktivität ist in dieser Zeit auch gestiegen. Das Jahr 2015 als statistische Basis genommen, ist der Index der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem von 95,14 im Jahr 2005 auf 101,30 im Jahr 2023 gestiegen. Aber auch hier gibt es Alarmrufe, 2022 lag der Index nämlich bei 102,23 – ein Allzeithoch.

Die höchste Wochenarbeitszeit unter den vom Statistischen Bundesamt gelisteten europäischen Ländern hatte übrigens Serbien mit 42,5 Stunden, die niedrigste die Niederlande mit 31,3 Stunden. Ob die Niederlande damit gegenüber Serbien noch wettbewerbsfähig sind?

In der Süddeutschen Zeitung war am 14. August ein Interview mit dem Chef der Munich-Re, dem weltgrößten Rückversicherer. Joachim Wenning hat sich dort vehement dafür ausgesprochen, mehr zu arbeiten. Man müsse „Arbeits- und Leistungsanreize“ stärken. Und wie geschieht das? Nach Wenning z.B. durch längere Arbeitszeiten, weniger Feiertage und einen späteren Renteneintritt. Außerdem solle der Kündigungsschutz für Ältere gelockert werden:

„De facto zwingt er Unternehmen, Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, mit denen es nicht weiterarbeiten möchte. Wie absurd ist das?“

Die älteren Beschäftigten sollen also zur Not eine geringer entlohnte Arbeit oder Arbeitslosigkeit akzeptieren, und zugleich später in Rente gehen. Damit lassen sich vielleicht Sozialausgaben zu Lasten der Beschäftigten senken, aber solche „Anreize“ sind doch etwas einseitig an den Interessen der Unternehmen orientiert.

Natürlich gibt es auch hier Länder, die es aus Sicht der Unternehmen besser machen. Wenning verweist auf die Schweiz, die keinen Kündigungsschutz für Ältere kenne. Immerhin hat er nicht Länder wie den Sudan oder den Kongo angeführt, dort besteht gewiss noch mehr unternehmerische Freiheit.

Joachim Wenning nennt noch einen anderen Grund, warum wir mehr arbeiten müssen:

„Weil uns die Demografie ansonsten noch mehr Wettbewerbsfähigkeit und Lebensstandard kostet. In der Vergangenheit haben wir uns Minderarbeit durch überlegene Technologie und höhere Produktivität verdient. Die Schlüsseltechnologie von heute ist die Datentechnologie. In dieser sind Deutschland und Europa den USA und China weit unterlegen. Deshalb müssen wir wieder mehr arbeiten und leisten. Sonst gehen die Produktionsstätten ins Ausland.“

Die Lösung besteht also nicht darin, Unternehmen mit zukunftsfähigen Schlüsseltechnologien zu stärken, die nach Einschätzung vieler Ökonomen insgesamt zu knappen öffentlichen und privaten Investitionen in Deutschland zu steigern, sondern die Sozialstandards zu senken? Und indem man Sozialstandards senkt, bleibt der Lebensstandard erhalten? Wessen Lebensstandard genau? Die Logik wird hier etwas holprig.

Zudem mangelt es Deutschland bisher nicht wirklich an Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland hat viele Jahre durch niedrige Löhne und damit Verzicht auf Binnennachfrage, billige russische Energie und die Erschließung des chinesischen Marktes hohe Leistungsbilanzüberschüsse erzielt und andere Länder unter erheblichen Wettbewerbsdruck gesetzt. Dieses Modell ist in der Krise, aber ob Deutschland nun nicht mehr wettbewerbsfähig ist? Dem Monatsbericht März 2024 der Deutschen Bundesbank zufolge ist der deutsche Leistungsbilanz-Überschuss 2023 deutlich gestiegen, um 78,5 Mrd. Euro auf 243 Mrd. Euro. Der Anstieg bewegt sich in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts Thüringens.

Mehr öffentliche Aufmerksamkeit hatte jedoch eine Meldung erfahren, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit habe sich dem Ranking einer Schweizer Hochschule zufolge gegenüber dem Vorjahr um zwei Rangplätze verschlechtert. Es läge jetzt nur noch auf Platz 24, vor 10 Jahren sei es Platz 6 gewesen. Kassandra lässt grüßen, aber schon die mittelalterlichen Scholastiker wussten, dass es auf der Spitze einer Nadel eng zugeht und die Frage, wie viele Engel dort Platz haben, nicht einfach zu beantworten ist. Wenn alle Länder nach den ersten Rängen streben, spiegelt das zwar Wettbewerbsgeist wider, aber es können einfach nicht alle ganz vorne sein. Die Logik gestattet es nicht. Warum ist eigentlich Platz 24 nicht ausreichend?

Nicht, dass die Wettbewerbsfähigkeit keine Rolle spielen würde oder Trends der Wettbewerbsfähigkeit irrelevant wären, das wäre sicher falsch, aber vielleicht braucht man als gesellschaftliche Zielvorstellung doch etwas mehr als einen vorderen Rangplatz im Ranking einer Schweizer Hochschule. Nachhaltigkeit, Lebensqualität, Familienzeit, gute Schulen, bezahlbarer Wohnraum und solche Dinge gehören dazu. Dafür lohnt es sich dann auch, mehr zu arbeiten, falls es nötig ist.

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Edit 18.8.2024: Im dritten Absatz falscher Bezug auf E27 korrigiert. JK


Makroskop hat den Beitrag netterweise wieder übernommen: https://makroskop.eu/26-2024/mehr-arbeiten-sonst/



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Comments

10 Antworten zu „Mehr arbeiten, sonst …“

  1. PDP10

    Außerdem solle der Kündigungsschutz für Ältere gelockert werden:

    „De facto zwingt er Unternehmen, Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, mit denen es nicht weiterarbeiten möchte. Wie absurd ist das?“

    Das impliziert natürlich das übliche Klischee, dass ältere Arbeitnehmer Minderleister sind und nur noch von den Jungen durchgeschleppt werden.
    Nun, Herr Wenning ist auch schon 59. Vielleicht sollte er jetzt langsam mal seinen Vorstandsposten zugunsten eines mitte dreißigjährigen räumen und dann bis zur Rente mit 73 in Teilzeit Regale im Supermarkt einräumen.

    1. leben-und-geld

      @ PDP10:

      Der Satz ist nicht nur altersdiskriminierend, er ist auch regelrecht dumm. Oder demagogisch, wer weiß. Natürlich zwingt der Kündigungsschutz Unternehmen, Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, mit denen sie nicht weiterarbeiten wollen. Was denn sonst? Mitarbeiter, mit denen sie weiterarbeiten wollen, brauchen keinen Kündigungsschutz.

      An der Stelle kommt bei Herrn Wenning eine knallharte Herr-im-Haus-Einstellung zum Vorschein. Nach der Logik braucht es gar keine Arbeitnehmerrechte, auch keine Betriebsräte, keine Gewerkschaften. Eigentlich überhaupt keine Vorschriften, die das Unternehmen zu etwas zwingen, was es nicht will.

  2. hto

    Viele Selbstständige sagen, dass man sozusagen einen Pakt mit dem Teufel macht, wenn man in die Selbständigkeit geht, aber das kann einer nicht verstehen, der als Beamter im öffentlichen Dienst nur seine Pflicht getan hat!?

    1. leben-und-geld

      Sie meinen, Herr Wenning sei ein „Selbstständiger“? Und ich als Beamter geboren oder immer im öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen?

      Sie fechten Kämpfe mit den Spiegelungen Ihrer Phantasie aus, nicht mit der Realität.

  3. rolak 麻

    Spiegelungen Ihrer Phantasie

    Wohl eher solche der Konditionierung/Indoktrinierung, leben-und-geld – da braucht es überhaupt keine Phantasie, im Gegenteil, sie wäre systemzersetzend.

    btt: schön zerlegt, Joseph!

    1. Bernd Nowotnick

      XXX

      [Kommentar gelöscht. Bitte halbwegs beim Thema bleiben, danke. JK]

  4. RGS

    Danke für die erhellenden Statistiken, die zeigen wie dümmlich ein Unternehmensvorstand eines großen deutschen Konzerns argumentieren kann.
    Erschreckend!

  5. Mayer

    „Die höchste Wochenarbeitszeit im Kreis der EU27 hatte übrigens Serbien mit 42,5 Stunden, die niedrigste die Niederlande mit 31,3 Stunden. “
    Klingt so als wäre Serbien in der EU?!?

    1. leben-und-geld

      @ Mayer:

      Danke für den Hinweis, ist korrigiert.

  6. Uli Schoppe

    Ich finde die Statistik zur Arbeitszeit immer wieder schön. Zeigt sie doch ganz eindeutig das, wenn meine Frau und ich jeweils 30h die Woche arbeiten gehen würden, wir klar fauler sind als ein Haushalt in dem ein Partner 40h die Woche arbeiten geht und der andere zu Hause ist…
    Nein. Das zweite Modell finde ich nicht irgendwie schlechter.

    Oder genauso schön: ich geh 40h und meine Frau 20h … dann sind wir immer noch genau so fleissig wie im ersten Beispiel aber immer noch beide fauler als im zweiten ^^ Oder ich habe die Statistik nicht verstanden. Was mit 56 vieleicht vorkommen könnte…

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