Rentenpolitik: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen? Zumindest nicht gut?

Rente und Arbeit

Unsere Gesellschaft wird nicht umsonst als „Leistungsgesellschaft“ bezeichnet. Historisch hebt das damit verbundene Denken die bürgerliche Gesellschaft, in der Erwerbseinkommen über die gesellschaftliche Stellung bestimmen sollen, von der feudalen Gesellschaft mit ihrer Ständeordnung ab. Der Spruch „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ ist zwar schon von Apostel Paulus, also biblischen Ursprungs, damals gegen religiöse Schwärmer gerichtet, die glaubten, angesichts der baldigen Ankunft des Messias nicht mehr arbeiten zu müssen, aber er ist mit dem Bürgertum ins gängige ideologische Repertoire der Leistungsgesellschaft eingewachsen. Was jemand hat, soll er sich durch Arbeit verdienen. Es sei denn, man erbt viel. Eine offenkundige Pervertierung findet der Spruch darin, wenn er, hierzulande natürlich verbal entbrutalisiert, gegen Menschen gewendet wird, die nicht arbeiten dürfen oder können, seien es Kranke, Flüchtlinge oder auch Alte.

Alten Menschen wird über das caritative Sozialhilfeniveau hinaus der Lebensstandard zugestanden, den sie sich erarbeitet haben. In der Rentenversicherung gilt, anders als in der Krankenversicherung, das Äquivalenzprinzip: Höheres Einkommen, höhere Renten. Immerhin ist diese patriarchale Fokussierung auf die Erwerbsarbeit etwas aufgeweicht worden durch die Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten für die Rentenansprüche. Die Rentenpolitik ist ein sozialethisch aufschlussreicher Teil der Sozialpolitik, weil es dabei immer auch darum geht, was der Gesellschaft als „Leistung“ gilt, welche Finanzquellen man für die Renten heranzieht und was uns, oder der Regierung, alte Menschen, die nicht mehr arbeiten, wert sind.

Ende 2023 lag die Durchschnittsrente selbst nach mindestens 45 Versichertenjahren nach Angaben der Bundesregierung in Westdeutschland nur bei 1.663 Euro, in Ostdeutschland bei 1.471 Euro. Natürlich kommen hier, vor allem in Westdeutschland, oft Betriebsrenten oder andere Einkünfte hinzu. Manche Rentner wohnen auch in den eigenen vier Wänden und sind so zumindest gegen die auseinandergehende Schere zwischen Mieten und Renten geschützt. Die Wohneigentumsquote in Deutschland liegt allerdings in Europa am unteren Rand, 2023 betrug sie 47,6 %, nur in der Schweiz war sie noch etwas geringer. In vielen europäischen Ländern liegt sie über 70 %.

Wenn die Menschen älter werden, vor allem gesund und ohne materielle Sorgen, ist das eine erfreuliche Entwicklung. Wenn aber weniger Beitragszahler:innen mehr Renten finanzieren sollen, kann das je nach Finanzierungsarchitektur die Rentenversicherung unter Druck bringen. Dabei steigt der Anteil der Älteren an der Bevölkerung schon seit 100 Jahren, Rentenreformen gibt es genauso lange. Auch die Ampel-Regierung hat bis zuletzt über eine Rentenreform gestritten, die einerseits eine Untergrenze des Rentenniveaus festschreiben, andererseits den Anstieg der Beiträge begrenzen sollte.

Rentenpolitik und Lebenserwartung

Am 6. November ist die Ampel-Regierung zerbrochen. Kurz vorher hat die FDP noch eine alte Idee wiederbelebt: Wenn die Menschen immer älter werden, sollen sie doch auch länger arbeiten. Die „Rente mit 67“ war bereits ein Schritt in diese Richtung, nach den Vorstellungen der FDP soll es auf diesem Weg weitergehen. Zugleich will sie die Abschläge für einen vorzeitigen Rentenbeginn erhöhen.

Richtig ist, dass die Lebenserwartung in Deutschland im langfristigen Trend gestiegen ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt liegt jetzt – der Einfachheit halber nach der Periodensterbetafel der amtlichen Statistik – bei den Männern bei 78,3 Jahren, bei den Frauen bei 83,2 Jahren. Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Lebenserwartung der Männer um 5,9 Jahre gestiegen, die der Frauen um 4,2 Jahre. Dass die Lebenserwartung der Frauen etwas weniger stark gestiegen ist als die der Männer, hat u.a. mit ihrem nachholenden Tabakkonsum vor einigen Jahrzehnten zu tun, aber das tut hier nichts zur Sache.

Im Alter von 65 Jahren, das war lange der „normale“ Rentenbeginn, beträgt die „fernere Lebenserwartung“ der Männer 17,6 Jahre, die der Frauen 20,9 Jahre. In dem Alter hat man manche Risiken des Lebens schon hinter sich, daher reicht die fernere Lebenserwartung über die Lebenserwartung bei Geburt hinaus. Auch die fernere Lebenserwartung ist gestiegen: seit Anfang der 1990er Jahre bei den Frauen um 2,9 Jahre, bei den Männern um 3,3 Jahre.

Liegt es somit nicht nahe, der Argumentation der FDP zu folgen und die Menschen länger arbeiten zu lassen?

Die erste Rückfrage dazu ist, ob sich der Anstieg der Lebenserwartung fortsetzen wird bzw. ob er sich in gleichem Maße fortsetzt, wie in der Vergangenheit. Dem scheint, die Grafik zeigt es, nicht so zu sein. Der Anstieg der Lebenserwartung schwächt sich ab, schon vor Corona. Aktuell nimmt die Anhebung des Rentenzugangsalters mit einen Monat pro Jahr schneller zu als die Lebenserwartung. Im internationalen Vergleich, aber das ist auch ein Thema für sich, fällt Deutschland bei der Entwicklung der Lebenserwartung übrigens sogar zurück.

Eine kürzlich erschienene statistische Analyse zum Thema Rentenzugangsalter und Rentenbezugsdauer stellt die demografische Ausgangsthese der FDP ebenfalls infrage, die FDP ist hier möglicherweise einfach nicht auf dem aktuellen Stand der Dinge.

Eine längere Lebenserwartung steht zudem nur dann für eine längere Erwerbsphase zur Verfügung, wenn die Menschen im Alter noch gesund genug zum Arbeiten sind. Zwar hat auch die „gesunde Lebenserwartung“ zugenommen, also die Zahl der Lebensjahre in Gesundheit, aber mit Blick auf die Zukunft gibt es aktuellen Studien zufolge hier erhebliche Unsicherheiten.

Ein weiterer Punkt: Vergleicht man den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt mit dem der ferneren Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren, so fällt auf, dass Letztere um ca. 2 Jahre weniger angestiegen ist als Erstere. Ein Teil der gestiegenen Lebenserwartung bei Geburt führt also, soweit er nicht auf die Reduktion der Kindersterblichkeit entfällt, zu weniger Sterbefällen in der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, entlastet somit potenziell die Rentenfinanzierung, statt sie zu belasten.

Und noch ein sozialpolitisch relevanter Aspekt: Die durchschnittliche Lebenserwartung bildet, wie der Name schon sagt, einen Durchschnitt ab. Unter anderem den Durchschnitt unterschiedlicher Sozialstatusgruppen. Viele Studien haben gezeigt, dass sozial besser Gestellte eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als sozial weniger gut Gestellte, je nach Geschlecht vier bis acht Jahre. Die unteren Sozialstatusgruppen haben somit auch eine kürzere Rentenbezugsdauer, wie vor Jahren auch der damals Noch-nicht-Gesundheitsminister Lauterbach festgestellt hatte. Müssten also, wenn überhaupt, vor allem die sozial besser Gestellten länger arbeiten, oder einen Rentenabschlag hinnehmen? Oder müsste man angesichts der Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern vor allem die Frauen länger arbeiten lassen? Heikle Fragen.

Handlungsmöglichkeiten

Das Lösungsangebot der FDP ist ebenfalls bescheiden. Sie betrachtet das Thema erstens nur fiskalisch, zweitens nur aus der Perspektive der individuellen Lebenszeit, und auch das noch, wie beschrieben, nicht ganz sachgerecht. Stellschrauben gäbe es auch bei anderen Komponenten. Der Wirtschaftssachverständigenrat hat in seinem Gutachten 2023/2024 ein ganzes Arsenal aufgelistet, die sozialwissenschaftliche Literatur bietet ebenfalls vielfältige Anregungen.

Man könnte beispielsweise über die Beitragsbemessungsgrenze nachdenken, also mehr Beiträge von Besserverdienenden einnehmen. Das ist gerade geschehen, sie steigt von 7.550 Euro in den alten Bundesländern und 7.450 Euro in den neuen Bundesländern auf jetzt einheitliche 8.050 Euro. Bruttoeinkommen. Einkommen darüber bleibt beitragsfrei. Aber immerhin. Man könnte außerdem Kapitaleinkünfte in die Rentenberechnung miteinbeziehen. Die FDP präferiert dagegen den Einstieg in die kapitalgedeckte Rente, d.h. viel Geld von den Beschäftigten alleine aufgebracht, von Finanzkonzernen verwaltet.

Man könnte auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöhen, z.B. Migrant:innen schneller in Lohn und Brot bringen, Arbeitslosigkeit effektiver verhindern und abbauen oder, u.a. durch eine bessere Kinderbetreuung und Altenpflege, die Frauenerwerbsquote steigern. Sie ist in Deutschland zwar nicht schlecht, könnte aber höher sein. Sie lag im zweiten Quartal 2024 lt. Eurostat bei 76,6 %, in Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder der Schweiz über 80 %.

Oder man könnte mehr in den Arbeitsschutz, die betriebliche Gesundheitsförderung und die Prävention insgesamt investieren, damit die Beschäftigten länger gesund bleiben, also die „gesunde Lebenserwartung“ steigt.

Last but not least: Der Elefant im Raum der Rentenpolitik, über den man nicht gerne spricht, ist der sozialpolitische Rahmen und die Frage der Ansprüche auf das gesellschaftlich erarbeitete Sozialprodukt. Die gestiegene Lebenserwartung spiegelt die Entwicklung dieses Sozialprodukts wider. Wem steht es zu und was bedeutet es somit verteilungspolitisch, wenn die längere Lebenserwartung durch eine längere Lebensarbeitszeit ausgeglichen werden soll?

Zeitenwenden, Wirtschaftswenden, Sozialwenden

Sozialpolitik wird in „Zeitenwenden“ konfrontativer. Die Aufwendungen für den Ukrainekrieg, für Trumps Forderungen nach verteidigungspolitischem Schutzgeld, für die Bekämpfung des Klimawandels und die wirtschaftliche Krise werden die Rentenpolitik nicht unberührt lassen. Wer nicht arbeitet, gehört in der manchmal sehr offenherzigen Terminologie der Leistungsgesellschaft zur Soziallast, subsummiert in der „Soziallastquote“. Nomen est omen. Wer nicht arbeitet, darf in einem zivilisierten Land natürlich trotzdem essen, niemand soll verhungern, auch wenn die Rente nicht reicht. Zwei Millionen Menschen in Deutschland sind inzwischen auf die Tafeln angewiesen, darunter viele mit zu kleinen Renten. Zugleich werden jährlich zweistellige Milliardensummen an Steuergeldern trickreich am Finanzamt vorbeigeführt, die Vermögenssteuer seit Jahren gar nicht mehr eingefordert, aufsummiert bisher 380 Milliarden Euro. Die vielzitierten „westlichen Werte“ stehen zur Diskussion.


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