Unsere Gesundheit: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, oder wie viele genau?

Man hört derzeit aus der Politik oft, wir hätten eines der teuersten Gesundheitssysteme, aber mit schlechten Ergebnissen, weil die Lebenserwartung in Deutschland niedriger ist als in den meisten süd- und westeuropäischen Ländern. Es stimmt, dass wir viel für unser Gesundheitssystem ausgeben. Dem Statistischen Bundesamt zufolge hatten die Gesundheitsausgaben in Deutschland 2023 einen Anteil von 12 % am BIP, mehr als unsere Nachbarn, und die Lebenserwartung lag der Sterbetafel 2022/2024 zufolge bei den Männern bei 78,5 Jahren, bei den Frauen waren es 83,2 Jahre, das war weniger als bei unseren westlichen Nachbarn. Wie beides zusammenhängt, ist aber nicht so einfach, wie der frühere Gesundheitsminister Karl Lauterbach und viele andere, die seitdem ins gleiche Horn blasen, meinen.

Die Probleme fangen schon damit an, dass man mit dem Indikator „Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP“ vorsichtig sein muss. Einschlägiger wären die Pro-Kopf-Ausgaben, wir wollen ja Menschen und nicht Bruttoinlandsprodukte gesund machen, auch wenn das Gesundheitswesen natürlich einer der bedeutsamsten Wirtschaftssektoren ist und möglichst auch nicht leiden soll. Noch besser wären unmittelbare Outcome-Indikatoren wie z.B. nosokomiale Infektionen oder kurativ vermeidbare Sterbefälle. Dazu hatte ich hier vor einiger Zeit schon einen Blogbeitrag.

Über den Beitrag des Gesundheitswesens zu unserer Gesundheit streiten Epidemiolog:innen mindestens seit Thomas McKeowns „Die Bedeutung der Medizin“, im Original 1979 erschienen. McKeowns Kernthese war, dass nicht die Medizin, sondern Hygiene, Umwelt und Verhalten für unsere Gesundheit entscheidend seien. Dem dürfte im Grundsatz die Mehrheit der Epidemiolog:innen auch zustimmen, wenngleich sich manche Detailaussagen McKeowns im Nachgang als empirisch falsch darstellen. Der Streit, wie viel Einfluss einzelne Faktoren auf die Gesundheit haben, wird wohl noch lange weitergehen, schon allein deswegen, weil man es mit einem moving target zu tun hat, die Verhältnisse ändern sich schließlich ständig. Zu Zeiten McKeowns hatten weder der Klimawandel noch Smartphones Einfluss auf unsere Gesundheit.

Aber um die Quantifizierung einzelner Faktoren geht es mir hier nicht, sondern darum, wie sich diese Faktoren zueinander verhalten. Durch einen Beitrag auf Linkedin bin ich über eine Grafik aus einer ebenfalls schon etwas älteren Studie von Steven Schroeder gestolpert, die ein Tortendiagramm zum Einfluss verschiedener Faktoren auf die vorzeitige Sterblichkeit in den USA zeigt:

Einflussfaktoren auf die vorzeitige Sterblichkeit nach Schroeder.

Diese Anteile wären heute sicher anders, Stichwort moving target, allein mit Blick auf die von Anne Case und Angus Deaton beschriebenen „Deaths of Despair“ in den USA, die in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben. Umgekehrt spielt in alternden Gesellschaften die Gesundheitsversorgung in der zweiten Lebenshälfte eine größere Rolle als früher. Die Grundaussage der Grafik, dass das Gesundheitssystem nicht den größten Einfluss darauf hat, wie viele Menschen vorzeitig sterben, dass Umwelt und Verhalten relevanter sind, ist aber auch heute noch richtig. Das legt im Grunde Forderungen nach mehr Prävention nahe, Verhältnisprävention wie Verhaltensprävention.

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte, die Grafik vermittelt ihre Botschaft auf einen Blick, und sie ist trotzdem grundlegend falsch. Sie legt nämlich nahe, dass sich die Einflussfaktoren auf die vorzeitige Sterblichkeit additiv wie Tortenstücke nebeneinanderlegen lassen. Aber die Verhaltens- oder die Umweltfaktoren sind nichts, was zu den sozialen Faktoren einfach zusätzlich hinzukommt. Hier geht es um distale und proximale Faktoren: Die soziale Lage bestimmt in erheblichem Umfang, wie häufig geraucht wird, wie man sich ernährt, wie viel man sich bewegt oder ob man an schadstoff- und lärmbelasteten Straßen wohnt. Steven Schroeder geht auf diese Zusammenhänge in seinem Artikel auch ein, d.h. er sieht die Problematik der Grafik auch selbst. Von Andreas Mielck, einem Münchner Soziologen, gibt es Grafiken, die den Zusammenhang der verschiedenen Faktoren als Flussdiagramm darstellen:

Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit nach Mielck

Die Grafik von Mielck sagt vielleicht nicht mehr als 1000 Worte, sondern nur mehr als 685 Worte, aber dafür ist sie mit Blick auf die Zusammenhänge zutreffender. Allerdings quantifiziert sie nicht, also sagen wir, sie sagt mehr als 500 Worte.

Ein Bild kann aufschlussreich und irreführend zugleich sein. Dann nuschelt es sozusagen. Daten gut zu präsentieren, ist eine Kunst für sich. Wie man gute Infografiken macht, auch darüber gibt es seit langem Diskussionen, aber das ist eine andere Geschichte (ein paar kunsthandwerkliche Hinweise dazu gibt es in der Broschüre „Mediale Aspekte der Gesundheitsberichterstattung“).


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