Krisen und soziale Verantwortung
„Die Frage, ob der für (…) Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, wir müssen uns mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels und Achtels-Kräfte.“ [1]
Das schrieb der Psychiater Alfred Hoche in dem gemeinsam mit dem Juristen Karl Binding verfassten Pamphlet „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Es erschien 1920. 25 Jahre der „schwierigen Expedition“ später hatten die Nationalsozialisten 300.000 behinderte Menschen ermordet. Die „Hartheimer Statistik“ ist ein Beispiel dafür, wie akribisch dokumentiert wurde, „welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird“, so Hoche 1920.
Damals war es das Abstraktum „Nationalvermögen“, das angeblich in Gefahr stand – durch eine Summe für die Pflege von Menschen, die bei weitem nicht an die damaligen Ausgaben für den Tabakkonsum heranreichte. Aber der Ton war gesetzt: Wenn die eingefahrenen wirtschaftlichen Wege verlassen werden müssen, sollen die Schwächsten zuerst bluten. Je nach Verlauf der Dinge müssen sie das dann auch im Wortsinn.
Das „Nationalvermögen“ war 1920 so wenig das Vermögen aller wie heute [3]. Und so wenig wie damals wollen heute die Reichen den Gürtel enger schnallen, wenn das wirtschaftliche Gefüge neu geordnet werden muss [4].
Eine solche Neuordnung des Wirtschaftssystems ist überfällig. Die Klimakrise ist das ultimative Stopp-Zeichen für die bisherige ressourcenfressende Wachstumsökonomie. [5] Für den Kampf gegen das Soziale, gegen das Schwache, für die Prärogative der Starken, ist der ideologische Referenzpunkt allerdings nicht mehr kollektiv ausbuchstabiert wie beim „Nationalvermögen“ oder gar beim „gesunden Volkskörper“, sondern im Gegenteil die Freiheit des Individuums, und zwar ganz unverblümt die unzivilisierte Freiheit der Reichen.
Anarchokapitalismus
Die Munition dafür liefert die „Österreichische Schule der Nationalökonomie“ in der Lesart von Ludwig von Mises. Sie wird derzeit von Rechtslibertären offensiv gegen den Sozialstaat in Stellung gebracht. Dass Leute wie Peter Thiel, Elon Musk oder Mark Zuckerberg keine Vertreter einer Gemeinwohlökonomie sind, war immer bekannt, aber eine größere öffentliche Aufmerksamkeit hat das Phänomen der radikalen Staatsfeindlichkeit erst durch die Wahl Javier Mileis zum Präsidenten Argentiniens bekommen. Milei ist auf einer Welle der Verzweiflung verarmter und abstiegsbedrohter Bevölkerungsgruppen an die Macht gespült worden. Das mag irritieren, weil der Abbau sozialer Sicherungssysteme erklärtermaßen zu seinem Regierungsprogramm gehört. Jeder soll sehen, wie er zurechtkommt, der Staat soll möglichst nur noch das Eigentum schützen. Wer keines hat, braucht nach dieser Logik auch keinen Staat. Freiheit als Anarchokapitalismus.
Javier Milei will die Konzepte von Murray Rothbard und weiteren Epigonen der Österreichischen Schule, wie Hans-Hermann Hoppe, zur gesellschaftlichen Realität machen. An die Stelle eines angeblichen Diebstahls in Form von Steuern und der so finanzierten staatlichen Leistungen sollen private Leistungen treten, alles ist käuflich. Wer hat, der hat. Von der Polizei über die Prostitution bis zum Handel mit Organen, alles soll und kann privat organisiert werden. [6] Auch das Schulwesen natürlich. Die Schulpflicht gilt vielen Radikallibertären als Beraubung der Eltern in Sachen kindlicher Arbeitskraft.
In manchen Positionierungen unterscheiden sich die eigentümlichen Freiheitskämpfer, manches erscheint auf den ersten Blick auch seltsam und inkonsequent. Dem abgrundtiefen Misstrauen dem Staat als „krimineller Vereinigung“ steht ein geradezu kindlich naives Vertrauen in die Rationalität und Fairness privater Akteure gegenüber, als ob Marktmacht und Korruptionsneigungen ein einem kapitalistischen Paradies ohne Sünde verschwinden würden. Manche Ungerechtigkeit verschwindet dabei auch, wie beim „Nationalvermögen“ Hoches, in abstrakten Formeln. Beispielsweise hebt Hoppe in einem Interview den Nachteil einer staatlich organisierten Gesellschaft so hervor: „Der allgemeine Lebensstandard ist niedriger, als er sonst wäre.“ Dass Anarchokapitalismus gleiche Markmacht und Wohlstand für alle schafft, ist damit vermutlich nicht gemeint, dafür gibt es empirisch keine Belege. Aber vielleicht ist er selbst davor zurückgeschreckt zu sagen, dass die Reichen dann noch leichter reich und die Armen noch leichter arm werden. Inkonsequent erscheint auf den ersten Blick auch, wenn Milei das Abtreibungsrecht radikal verschärfen will. Oder dass sein Umfeld die Verbrechen der Militärdiktatur in Argentinien, also den Staat in seiner brutalsten und am wenigsten freiheitlichen Form, verharmlost. Aber betrachtet man die Sache aus der Perspektive, dass es um die Entfesselung der individuellen Freiheit der Mächtigen geht, verschwinden solche Widersprüche: Die eigenen Interessen sollen durchaus Gesetz werden. Da verschmelzen plötzlich Anarchokapitalismus und Autoritarismus: L’État, c’est moi! – libertär verpackt.
Dass der Markt nicht alles optimal regelt, nicht einmal von den bloßen Transaktionskosten her, weiß man eigentlich seit Ronald Coase. Und man ahnt, wie in anarchokapitalistischen Systemen Infrastrukturprojekte, etwa Fernstraßen oder Kraftwerke, geplant und durchgesetzt oder Umweltschäden reguliert würden. Eine demokratische Bürgerbeteiligung gehört nicht zum Instrumentenkasten dieser Leute, so wie ihnen die Demokratie insgesamt als Fehlentwicklung gilt. In Hoppes Augen, im eben schon zitierten Interview, „ist die Demokratie, ob direkt oder indirekt, eine Form des Kommunismus“. Orwell hat es noch andersrum formuliert.
Anarchokapitalismus und rechte Ideologie
Die Freiheit der Übermenschen ist die Wiedergeburt eines unmaskierten und amoralischen Sozialdarwinismus, bis hin zur Entmenschlichung von Andersdenkenden: „A member of the human race who is completely incapable of understanding the higher productivity of labor performed under a division of labor based on private property is not properly speaking a person, but falls instead in the same moral category as an animal — of either the harmless sort (to be domesticated and employed as a producer or consumer good, or to be enjoyed as a “free good”) or the wild and dangerous one (to be fought as a pest).“ [7] Dabei finden libertäre, feudale, rassistische und antiökologische Motive mühelos zueinander. [8] Man ist gegen den Sozialstaat, gegen ein allgemeines Wahlrecht, gegen multikulturelle Gemeinschaften, gegen die EU, für „natürliche Ordnungen“ wie die Familie und natürlich bestreitet man auch den menschengemachten Klimawandel. Das schafft Anschlussstellen an andere ideologische Systeme. Dass Rothbard und Hoppe in Deutschland nicht nur restaurative Reaktionäre im Reichsbürgermilieu oder der AfD inspirieren, sondern z.B. auch einschlägig vorbelastete Vertreter der FDP in Thüringen, dass die Dekrete Mileis in Leserkommentaren deutscher Leitmedien viel Zuspruch erfahren, sollte nachdenklich stimmen. Argentinien ist womöglich näher als man meint. Nur weil auch im Kapitalismus Geld die Welt regiert, bedeutet das noch lange nicht, dass sich die ökonomische Vernunft der Solidarität [9] von alleine durchsetzt.
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[1] Binding K, Hoche A (1920/2006). Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Berlin: 51f.
[2] Kuhn J (2009). Wenn sich Therapie nicht lohnt: Gesundheit als ökonomisches Optimierungsproblem? FKP 53: 50-54.
[3] Albers Th, Bartels Ch, Schularick M (2022). Wealth and its Distribution in Germany, 1895-2018. CESifo Working Paper No. 9739.
[4] Salle G (2022). Superyachten. Frankfurt.
[5] Fraser N (2023). Der Allesfresser. Frankfurt.
[6] Kemper A (2022). Privatstädte. Münster.
[7] Hoppe H-H (2001/2007). Democracy: The God That Failed. New Brunswick, New Jersey: 173.
[8] Slobodian Q (2024). Staat ohne Macht. Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2024: 64-77.
[9] Reiners H (2023). Die ökonomische Vernunft der Solidarität. Wien.
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